Beitrag zur alten Frau am Grab entstanden aus: Blogparade: Die Natur und meine Sinne; vormals veröffentlicht auf der alten Seite Crea-Motion

Lange habe ich die Geschichte der alten Frau am Grab vergessen und verdrängt. Erst viele Jahre später erinnere mich daran. Mir wird bewusst, dass ich damals mit einem Geist gesprochen hatte. Auch heute noch erscheinen mir manchmal Verstorbene. Besonders dann, wenn Hinterbliebene in meiner direkten Umgebung über ihre verstorbenen, erdgebundenen Seelen sprechen.

Die Seelen wünschen sich dann, dass ich quasi für sie übersetzte. Ihren lebenden Angehörigen sage, dass sie nicht trauern sollen. Sondern das kurze Leben mit all seinen Höhen und Tiefen geniessen. Doch ich getraue mich nicht! Viel zu oft wurde ich wegen meinem abnormen Verhalten gemobbt und für verrückt erklärt. Trotzdem weiss ich, dass ich eine Gabe habe und die nicht läger unterdrücken darf. Eine übersinnliche, hypersensible Wahrnehmung ist Fluch und Segen gleichermassen.

Geschichte: Zur alten Frau am Grab

Wie so oft bestand der sonntägliche Familienausflug in meiner Jugend aus einem Spaziergang zum Friedhof. Ich hatte keine Lust dazu und maulte genervt umher. Doch alle Ausreden halfen nichts, es blieb dabei. Also stampfte ich wütend und lustlos meinen Eltern und meinem Bruder hinterher.

Alsbald standen meine Eltern auf dem Friedhof vor dem gewünschten Grab und taten was Erwachsene in solchen Momenten eben tun. Mir kam das Ganze jedes Mal ziemlich überflüssig vor (und hat sich bis jetzt nicht geändert). Wieso bitte starren Menschen in sich gekehrt auf diese komischen Steine? Ausser ein paar künstlerischer Gestaltungselemente, vielen sehr schönen Blumen und verrotteten Gebeinen ist da nichts.

Ich ignorierte wie üblich meine Eltern und jagte den bunten Schmetterlingen und dem Blumenduft hinterher. Bis ich bei einigen Grabreihen weiter auf eine alte Frau traf. Auch sie schaute auf ein Grab, doch irgendetwas war anders an ihr. Ich beobachtete sie eine Weile, bis sie sich zu mir umdrehte und mich ansprach. „Sind die Blumen nicht hübsch? Auch der Stein – nicht war? Aber schau Kind, die Blumen welken. Sei doch so lieb und hole dort drüben etwas Wasser und giesse die Blumen damit“. Etwas irritiert antwortete ich ihr: „Aber wieso holst du das Wasser nicht selber? Papa hat gesagt, ich darf nichts an fremden Gräbern machen?!“.

Etwas verschmitzt schaute sie mich an und meinte: „Ich bin eine alte Frau. Mir fehlt die Kraft die Giesskanne zu heben. Schau meine dünnen, kraftlosen Arme. Die Blumen brauchen dringend Wasser, sonst verdursten sie. Es kümmert sich niemand darum.“. Also drehte ich mich um und wollte loslaufen, wurde jedoch abrupt von einem alten Mann abgefangen. Etwas irritiert fragte er mich, nach meinem Gesprächspartner und was ich genau mache. Ich erklärte ihm alles und zeigte direkt auf die neben ihm stehende Frau. Kopfschüttelnd und schulterzuckend antwortete der Mann: „Kinder! Die haben einfach zu viel Fantasie! Da steht keine Frau. Aber du hast Recht die Blumen brauchen wirklich dringend Wasser.“ Mit dieser Antwort drehte er sich um ging davon.

Nun rasch die volle metallene Giesskanne holen. Die Frau hatte recht, die Kanne war wirklich sehr schwer! Trotzdem gelang es mir. Die Blumen bekamen endlich etwas zu trinken. Jetzt noch schnell ein paar welke Blätter entfernen. Voller Freude über meine Arbeit fing die alte Frau an zu lachen und bedankte sich herzlich bei mir.

Plötzlich vernahm ich von weitem jemand nach mir rufen. Mist! Schnell eilte ich mit der leeren Gisskanne zurück, winkte der alten Frau zu und rannte zu meinem Vater. Der mich wie üblich etwas zu fest am Oberarm packte und meinte: „Was soll der Blödsinn! Was machst du jetzt schon wieder! Habe ich nicht gesagt, dass auf dem Friedhof Ruhe herrscht und nicht gerannt wird?! … und was sollte das mit dem Grab und der Giesskanne?“. Ich wusste zuerst nicht was ich sagen soll. Doch ich entschied mich auf die alte Frau zu zeigen und ihm von ihrer Bitte zu erzählen. Er drehte sich in meine angezeigte Richtung und meinte nur „Da steht niemand! Und jetzt komm. Ich habe für heute genug von deinen Geschichten“. Er zerrte mich weg. Irritiert über die Aussage meines Vaters, wagte ich einen letzten Blick in die Richtung der alten Frau. Sie war spurlos verschwunden!